Nun liegt es also vor das Jahr 2015; die Wegstrecke einiger Tage ist schon zurückgelegt.

Noch ist der Verlauf des Weges nicht auszumachen; die neuen Erfahrungen und Eindrücke, die am Jahresende Geschichte sein werden, liegen noch ungelebt verborgen hinter dem Nebelschleier der Ungewissheit. Wie sie wohl aussehen werden diese Erfahrungen und Eindrücke? Bunt? Einfarbig? Schillernd? Oder doch eher trist? Und wie wird der Weg sein? Kurvig? Achterbahn? Einfach geradlinig?

Das alte Jahr ist noch allgegenwärtig. Das Geschehene ist noch nicht in der Geschichtsbox der Seele abgelegt. In den Januartagen steckt irgendwie ein Bein noch im alten Jahr, während das andere Bein schon Schwung nimmt für die ersten Schritte im neuen.

Es muss erst eingelebt werden, dieses neue Jahr. Anfangs passt das Jahr noch nicht, wie eine neue Jeans, die sich mit der Zeit und durch die Körperwärme anpasst. Und auch wenn das Kalenderblatt den Jahreswechsel verkündet, so heißt dies nicht automatisch, dass auch Geist und Seele diesen Wechsel bereits annehmen können.

Im Verlauf eines Lebens gibt es immer wieder Probe- und Übergangsphasen, jeder kennt sie, jeder macht sie durch. Doch wie verhält sich das im Jahreslauf? Ich denke für das Einleben des neuen Jahres wurde der Januar erfunden; sozusagen als Einlebphase. Wozu sollte er sonst gut sein, dieser seltsame Zwischenmonat, der zwischen den Jahren liegt. Zwischen dem vollständigen ankommen im neuen Jahr und dem finalen ableben des alten Jahres. Der Januar dient zum begrüßen des neuen Jahres, während man sich gleichzeitig vom alten verabschiedet. Im Januar tankt man Energie, die man für den Jahresweg benötigt.
Jeder Weg beginnt mit dem bekannten ersten Schritt. Aber die Schritte durch den Januar fallen mir immer extrem schwer. Einerseits fühlt es sich an als würden meine Füße in übergroßen Bleischuhen stecken, die mich daran hindern leichtfüßig durch den Januar zu huschen. Andererseits muss ich das Gehen durch den Januar jährlich neu lernen. Jeden einzelnen Schritt abwägen, sich ständig fragend, ob der Grund des Weges auch tragfähig ist. Oder besteht doch die Gefahr des Ausrutschens oder des Stolperns? So kommt es, dass ich mich tapsend vorsichtig, wie ein neugeborenes Fohlen, und orientierungslos auf den Januarweg begebe.

Und dennoch, obwohl ich nur so beschwerlich langsam vorankomme und mir der Weg des Januars so viel länger vorkommt als alle anderen Wegstücke im Jahreslauf, mache ich mich in jedem Januar auf ein Neues auf den Weg. Denn ich will wissen, was hinter dem Nebelschleier der Ungewissheit liegt, was es dort Aufregendes zu entdecken gibt. Vielleicht finde ich dort ja auch verblasste, längst vergessene Dinge wieder. Man kann nie wissen.

Es heißt der Weg sei das Ziel und Wege entstehen erst beim gehen. Gut, dem will ich mich gerne stellen. Ich mache mich auf in ein unbekanntes, funkelndes Universum, in dem alles sein kann, nichts aber sein muss. Alles ist möglich, manches wird unmöglich sein.

Vielleicht ergibt sich genau daraus auch diese unfassbare Länge eines jeden Januars, dessen Tage gefühlte 48 Stunden haben und in dem jede Minute mindestens 120 Sekunden misst. Alles läuft wie in Zeitlupe ab, weil noch alle Möglichkeiten vorhanden sind. Je mehr Jahreszeit verrinnt umso mehr Möglichkeiten sind unwiederbringbar abgelebt.

Und aus genau diesem Grund sind die Tage des Dezembers so unglaublich hektisch. Das Jahr rast auf sein Ende zu, die Jahreserlebnisses sind so gut wie alle erlebt; das Füllhorn der Möglichkeiten ist fast leer.

Im Januar ist die Aufschieberitis Luxus, im Dezember führt sie zu Aktionismus. Diese Dezember-Hektik lässt mich immer völlig außer Atem im neuen Jahr ankommen. Nach und nach entweicht in den Januartagen dann die Eile und die Hast des Dezembers.

Seit einigen Jahren stehe ich regelmäßig in diesen ersten Tagen des Jahres erschüttert vor der Tatsache, dass schon wieder ein Jahr verstrichen ist, dass so vieles unmöglich war, dass viele Möglichkeiten zu Erlebnissen wurden, die ohne Erinnerung bleiben, dass manche Möglichkeit hinter den Erwartungen zurückblieb.

Nicht nur die Zeitmessung ist im Januar eine andere, auch werden die Meter zu gefühlten Kilometern und ein Kilometer zu mindestens zehn. Die Orientierung ist noch nicht optimal justiert. Noch kann man nach einigen Schritten in einer Sackgasse landen, tappt durch ein Labyrinth oder rennt von Kreisel zu Kreisel bis sich alles dreht. Noch ist die Welt in ein eisiges-nachtblaues Dunkel getaucht. All das wirft mich so sehr auf mich selbst zurück, dass ich nicht an mir vorbei komme. Ich muss mich mit mir auseinandersetzen. Mir jeden Tag aufs Neue das „DU“ anbieten. Im Januar lebe ich intensiver. Ich atme ein, ich atme aus.

Irgendwann komme ich allmählich an den Punkt, wo alles rund läuft, dann hole ich tief Luft, um dann am 1. Februar ganz ich selbst zu sein, um dann los zu rennen auf sicherem Boden, in einer passenden Jeans, barfuss oder mit leichten Schuhen, mit dem Mut nach dem fallen wieder aufzustehen und ohne Blick zurück.

 

Lasst Eure Alltagssterne leuchten, Anja***